Nachdem ich mich für ein Auslandsjahr in Polen entschieden hatte, war die Frage, die ich von wirklich jedem, der davon erfuhr, gestellt bekommen habe: „Warum Polen?“ Auch als ich endlich in Polen und bei meiner Gastfamilie angekommen war, blieb ich von der Frage nicht verschont. Meine Standardantwort war stets, dass ich einfach eine neue Kultur kennenlernen wollte und von unserem Nachbarland aus irgendeinem Grund überhaupt nichts wusste und dass ich eine neue Sprache lernen wollte, die nicht so häufig im Lebenslauf zu finden ist. Dabei hatte ich aber immer irgendwo im Hinterkopf, dass Polen überhaupt nicht meine erste Wahl, sondern meine dritte war und ich ursprünglich nach England oder Irland, also in englischsprachige Länder wollte. Mittlerweile bin ich extrem glücklich darüber, in welches Land YFU mich geschickt hat, denn Polen ist einfach nur großartig.
Auch meine Gastfamilie ist großartig. Mutter, Vater, zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester haben mich sehr herzlich aufgenommen und ich habe mich sofort wohl gefühlt.
Im Familienleben gibt es generell keine großen Unterschiede, jedoch wird, zumindest in meiner Familie, in der Freizeit fast immer etwas mit der Familie unternommen. Außerdem sind die Haushaltsaufgaben sehr genau aufgeteilt und es wird versucht, dass jeder gleich viel im Haushalt mitarbeitet.
Mein etwa gleichaltriger Gastbruder hat mich zwei Tage nach meiner Ankunft gleich zu einem Spieleabend seiner Kirchengruppe mitgenommen, bei dem ich dann vom Priester zum Kanufahren am darauffolgenden Tag eingeladen wurde. Und so ging es weiter. Eigentlich war ich so gut wie nie allein in den ersten Tagen und es gab unheimlich viele Aktivitäten.
Schon in der ersten Woche nach meiner Ankunft wurde ich mit auf eine Familienfeier genommen und war etwas überfordert, da an diesem Tag gleich vier Familienmitglieder ihren Geburtstag gefeiert haben und die Familie um einiges größer ist, als meine deutsche. Für jedes Geburtstagskind wurde ein traditionelles polnisches Lied „Sto lat“ gesungen, was eigentlich zu fast jeder Feier gesungen wird, egal ob Geburtstag, Weihnachten oder Hochzeit. Es bedeutet wortwörtlich „hundert Jahre“ und dem Besungenen wird damit ein langes Leben gewünscht.
An dem Wochenende, an dem ursprünglich der von YFU organisierte Ausflug nach Warschau stattfinden sollte, welcher leider wegen mangelnder Anmeldungen abgesagt wurde, bin ich mit einem Teil meiner Gastfamilie nach Wroclaw / Breslau gefahren, wo wir den größten Zoos Polens besucht und uns am nächsten Tag die Stadt angeschaut haben. Meine Schwester und ich haben uns ganz begeistert eine Karte aus dem Tourist Shop geholt, mit deren Hilfe wir alle kleinen Zwerge, die in der Nähe des Marktplatzes aufgestellt waren, finden konnten. Insgesamt gibt es über 600 Breslauer Zwerge, die früher als Symbol des Kampfes gegen die Kommunistische Partei gesehen wurden.
Entgegen meinen Befürchtungen ist meine vegane Ernährung absolut kein Problem für meine Familie. Unter der Woche bereitet entweder meine Gastmutter oder mein ältester Gastbruder jeweils am Vorabend ein Mittagessen für alle für nach der Schule oder Arbeit vor, welches immer vegan ist, und am Wochenende, vor allem sonntags, gibt es für meine Familie Fleisch, und ich koche mir etwas anderes.
Ein typisch polnisches Gericht sind Pierogi, die ich schon sowohl in süßer als auch in herzhafter Form verzehren durfte. Pierogi sind die polnische Version von Maultaschen und können sowohl mit Früchten als auch mit Pilzen oder Ähnlichem gefüllt werden.
Ein weiteres traditionelles Gericht, welches ich kennengelernt habe, ist das Posener Martinshörnchen, welches vor allem am 11. November gegessen wird. Ich habe persönlich noch nicht davon gekostet, aber meine Gastmutter hat mich mit in ein Museum genommen, in welchem die Geschichte und Zubereitung des Martinshörnchen erklärt wurde.
Am Schulanfang war ich natürlich sehr besorgt, dass ich vielleicht keinen Anschluss finden würde, aber wie sich schon kurze Zeit später herausstellte, war auch diese Sorge vollkommen unbegründet, da meine Klassenleiterin mich einfach einigen Mädchen aus meiner Klasse vorgestellt hat und diese mich sofort in ihre Gruppe aufgenommen haben.
Mein Stundenplan unterscheidet sich sehr von meinem deutschen, da ich insgesamt nur acht Fächer habe. Ich habe den betriebswirtschaftlichen Zweig gewählt und habe dadurch erweiterte Englisch-, Mathe- und Geographiestunden. Weil wir diese Fächer sehr oft haben, gibt es auch sehr viel Unterrichtsstoff zu lernen, was meine polnischen Klassenkameraden, die sich gerade auf ihr Matura, ihren Schulabschluss vorbereiten, ziemlich stresst.
Der polnische Schulalltag unterscheidet sich ein wenig von unserem deutschen. Es ist üblich, dass die Jungen vor dem Klassenzimmer warten, bis alle Mädchen nach drinnen gegangen sind, bevor sie selbst ins Zimmer gehen. Außerdem erheben sich immer alle Schüler, wenn ein Erwachsener das Klassenzimmer betritt. Eine weitere Umstellung für mich war, dass nach jeder Schulstunde eine 10- bis 15-minütige Pause ist, wodurch sich der Schultag ziemlich in die Länge zieht. Anders als in Deutschland gibt es an meiner Schule kein Handyverbot. Nur während mancher Stunden müssen wir unsere Handys vorne am Pult in einen Korb legen. Auch die polnischen Lernmethoden unterscheiden sich von den deutschen. Es wird sich in den Sprachen fast ausschließlich auf die Grammatik konzentriert und weniger auf das Sprechen. In Geographie und Geschichte erzählen die Lehrer einfach und die Schüler müssen sich Notizen machen oder den Stoff im Buch nachlesen.
Am ersten Schultag ist es Tradition sich elegant in schwarz und weiß zu kleiden und sich in der Aula zu versammeln, um die polnische Hymne zu singen.
An meinen zweiten Schultag erinnere ich mich besonders gerne. Ich bin auf dem Weg zur Schule gerade aus dem Bus ausgestiegen, als ich von einem ziemlich aufgeregten Mädchen gefragt wurde, ob ich Kim sei. Als ich dies bejahte, ist sie komplett ausgerastet und hat sich erst nach fünf Minuten soweit beruhigt, dass sie sich und ihren besten Freund mir vorstellen konnte. Diese Beiden sind mittlerweile meine besten Freunde hier und haben mich auch ihrem gesamten Freundeskreis vorgestellt, welcher überhaupt kein Problem damit hatte, eine völlig Fremde bei sich aufzunehmen. Sollte ich dennoch mal irgendwelche Schwierigkeiten haben, bei denen mir meine Freunde nicht helfen können, haben sowohl meine Englisch- als auch meine Deutschlehrerin mir angeboten zu helfen.
Polnisch ist mit seinen sieben Fällen und etlichen Zischlauten, auch Digraphe genannt, wirklich keine einfache Sprache, aber mir wird hier von allen Seiten Hilfe angeboten. Die Polnisch Lehrerin meiner Klasse bringt mir zweimal pro Woche in ihren Freistunden Polnisch bei. Auch meine Gastmutter gibt sich große Mühe mir zu helfen und spricht hauptsächlich Polnisch mit mir. Außerdem bemerkt man, wenn man sich nicht auf die Schwierigkeiten der polnischen Sprache fixiert, dass diese auch einige einfache Aspekte beherbergt. Im Polnischem gibt es nämlich keine Artikel und nur drei Zeitformen, Präsens, Futur und Präteritum.
Der erste Feiertag, den ich in Polen kennenlernen durfte, hat sich extrem von meiner deutschen Erfahrung unterschieden. Am 1. November, Allerheiligen, bin ich mit meiner Gastfamilie zu mehreren Friedhöfen gegangen, um an den Gräbern der verstorbenen Familienmitglieder Blumen abzulegen, Kerzen anzuzünden und für die Toten zu beten. Meine Gastmutter hat mir erzählt, dass man vom 1. November bis zum 8. November Zeit habe, um auf die Friedhöfe zu gehen und zu beten, damit die Verstorbenen sofort in den Himmel aufsteigen können und nicht lange in der Zwischenwelt warten müssen. Auf dem Friedhof sind mir sehr häufig rote Flaggen mit weißen Adlern in der Mitte aufgefallen. Die Flaggen stehen für den Posener Aufstand, bei dem die Posener für die Eingliederung von Posen in Polen gekämpft haben. Die Soldaten und Bürger, die bei diesem Aufstand ihr Leben ließen, haben meist eine dieser Flaggen auf ihrem Grab stecken. Nach dem Friedhofsbesuch ist die ganze Familie zu Besuch gekommen und wir haben zusammen gegessen.
Anders als Deutschland hat Polen nicht nur Mutter- und Vatertag, sondern auch einen Tag für Jungs, Frauen, Großmütter, Großväter, Kinder und Lehrer. Am Jungs Tag, dem „ Dzień Chłopaka “, habe ich mit den Mädchen aus meiner Klasse einige Spiele und Snacks für unsere männliche Klassenkameraden vorbereitet. Für den Tag der Lehrer, den „ Dzień Nauczyciela “, war etwas mehr Aufwand nötig. Meine Klasse hat mehrere Wochen im Voraus angefangen eine kurzes Theaterstück zu schreiben und einzustudieren, welches an besagtem Tag in der Aula vor der gesamten Lehrer- und Schülerschaft aufgeführt wurde. Oder besser gesagt fast der gesamten Schülerschaft, da jeder, der nicht formell genug gekleidet war, aus der Aula geschickt wurde.
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